celler presse – 18.11.25
Ehren und erinnern an Joachim Kersten – einen „Mann von Welt“ aus Celle
Als kleiner Junge wusch er seine Schneider-Bücher ab, sie ließen es zu, denn sie waren nicht nur weiß, hatten auf dem Titel ein ganzseitiges buntes Bild, sondern waren auch kaschiert, also abwaschbar. „Keiner machte das, aber ich“, erinnerte sich Joachim Kersten in seinem Text „Das Sammeln von Büchern“.
In diesem liebevollen Umgang mit seinen Schätzen lag wohl schon ein Hinweis auf den späteren Büchernarren und Sammler. In welcher Umgebung dieser aufwuchs, lässt der folgende Satz erkennen: „Als mein Vater das sah, sagte er, du liebst Deine Bücher.“ Keineswegs selbstverständlich für eine Kindheit in den 1950er Jahren im Nachkriegsdeutschland.
Begonnen hatte sie im Jahr 1946 in Celle, später, als aus dem Schneider-Bücher lesenden Kind ein Anwalt mit den Spezialgebieten Verlags- und Medienrecht, Autor, Herausgeber, Rezitator und Literaturmäzen geworden war, bildete Hamburg den Lebensmittelpunkt. Von dort reiste er an, wenn Arno-Schmidt-Lesungen auf dem Programm standen, aber auch darüber hinaus hat er in Celle seine Spuren hinterlassen, hat die Stadt mittels seiner feinen Beobachtungsgabe genauestens unter die Lupe genommen und beschrieben. Und so gab es auch in seinem Geburtsort eine vom Wallstein Verlag und der RWLE-Möller-Stiftung getragene Veranstaltung, die sich sowohl dem Erscheinen seiner Biographie in Texten „Lose Blätter. Notizen, Essays und Rezensionen“ als auch der Erinnerung an den im März 2023 verstorbenen Joachim Kersten widmete.
LUST AN DER SPRACHE
Ausgiebig kam er zu Wort während der Matinée im Schlosstheater, denn seine Frau Jacqueline Kersten, die „Lose Blätter“ herausgegeben hat, und sein langjähriger Freund und Wegbegleiter, Oskar Ansull, gaben ihm eine Stimme, indem sie aus seinen veröffentlichten und unveröffentlichten Schriften lasen. Der Göttinger Wallstein Verlag hat das Buch im September 2025 publiziert, der Verleger Thedel v. Wallmoden führte nach der Anmoderation durch Intendant Andreas Döring in die Matinée ein, berichtete von seinen Begegnungen mit „dem besonderen Zeitgenossen“ und seiner großen Leidenschaft für Bücher: „Für Joachim Kersten waren es Glücksmomente, wenn Bücherpakete in der Kanzlei ankamen. Seine Bibliothek umfasste 40.000 Bände.“ Er war „unglaublich vielseitig interessiert, für jede Anregung offen“, erzählt der Verleger und endet mit der Bemerkung: „Über allem stand die Lust an der Sprache“.
Die Passagen, die Jacqueline Kersten und Oskar Ansull herausgesucht haben, vermitteln einen Eindruck, belegen aber auch das Talent, sehr genau zu beobachten. „Spuren im Sand. Vom Geist einer kleinen Stadt“ stammt aus der Zeit, als Kersten sich noch Georg Eyring nannte: „Auf der Suche nach kulturellen Spuren muss man in dieser Stadt nicht fürchten, die Orientierung zu verlieren – ‚in jeistiger Hinsicht‘, wie Tucholsky wohl gesagt haben würde“, schreibt Eyring im Jahr 1982 in seinem Beitrag zu „Hinter den Fassaden“, laut Ansull die erste kritische Aufarbeitung der jüngeren Geschichte einer Stadt in Niedersachsen, nämlich Celle. Frau Kersten folgt mit Auszügen aus einem unveröffentlichten Manuskript, in dem ihr Mann seine Wahrnehmung der DDR im Jahr 1979 festgehalten hat. Er fuhr zu einer Goethetagung nach Weimar und notiert: „Dörfer, in denen die Zeit stehen geblieben ist – kein gelber Klinker und kein Glasbaustein beleidigt das Auge… An der Saale hellem Strande ist eine Luft, die nach Umweltschützern schreit.“
POLITISCHE BARACKE TRÄGT GARDINEN
Über den Besuch des KZs Buchenwald schreibt er: „Die politische Baracke ist bewohnt, sie trägt Gardinen. In den SS-Kasernen ist eine Jugendherberge. Und dann gibt es tatsächlich in den Lageranlagen das ‚Hotel Ettersberg‘ – HO wünscht gute Fahrt. Neben einem Kasernengebäude steht ein Grünuniformierter. Daneben mäht ein Mensch in Arbeitskleidung Gras mit der Sense. Vielleicht plaudern sie bloß – doch diese Bewacherpose… Wir sind in Deutschland.“
Die beiden Vorleser achten sehr genau auf die Zeit, sie wollen mit ihren Gästen noch ins Gespräch kommen im Gastronomiebereich des Schlosses. Und sie folgen mit dem Zeitmanagement einer Empfehlung der Hauptperson des Vormittags, den Oskar Ansull in einem Nachruf charakterisiert hat als „Büchernarr und Mann von Welt“. Auf seiner Weimar-Reise erlebte dieser einen viel zu langen und langweiligen Festvortrag eines Professors, der im Volksmund VEB-Goethe genannt wurde. Joachim Kersten notierte: „Solch germanistische Bürokratenoberlehrerei bringt nichts als die Wahrheit zutage, dass man über alles reden darf – nur nicht länger als eine Stunde.“
Anke Schlicht
Redaktion Celler Presse
Fotos: Anke Schlicht
Weblink
Cellesche Zeitung – 13.8.24
Cellesche Zeitung – 6.8.24
Cellesche Zeitung – Sachsenspiegel 3.8.24
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